DIE FARBE DEINER LÜGEN
KLAPPENTEXT
Ein verurteilter Mörder ohne Erinnerung und eine junge Lügnerin auf der Suche nach einer Zukunft: DIE FARBE DEINER LÜGEN von Catalina Cudd
Penelope muss flüchten. Vor ihrem gewalttätigen Ex-Freund und vor ihrem alten Ich. Das Selbstwertgefühl der jungen Frau ist zerstört, ihr Herz gebrochen und zu allem Überfluss ist sie total pleite.
In ihrer Verzweiflung klammert sich Penelope an einen wahnwitzigen Plan: Sie will ein seit Jahren verschollenes Gemälde finden und sich mit dem Finderlohn ein neues Leben aufbauen.
Der Schöpfer des Bildes ist niemand anders als der berüchtigte »Killer-Künstler« Drace, der auf dem Gemälde seine Ex-Geliebte als Tote abgebildet hat – um kurz darauf wegen des Mordes an ihr festgenommen und verurteilt zu werden.
Seit Kurzem ist der skandalträchtige und äußerst schwierige Maler wieder auf freiem Fuß, doch bis heute fehlt Drace jede Erinnerung an die Tat.
Als sich Penelope durch eine Lüge Zugang zu seinem abgeschotteten Künstlerkollektiv verschafft, ahnt er sofort, dass sie nicht mit offenen Karten spielt. Seine Vernunft rät ihm, sich von ihr fernzuhalten, denn Drace fürchtet, dass in ihm eine dunkle Seite schlummert, die er nicht unter Kontrolle hat. Seine verstörenden Gemälde sind schließlich der beste Beweis für die Abgründe in seiner Seele. Dennoch kann er sich ihrer Wirkung auf ihn nicht entziehen.
Und auch Penelope lässt sich wider besseren Wissens auf ein trügerisches Spiel auf der Suche nach der Wahrheit ein, bei dem nicht nur ihr Herz in tödliche Gefahr gerät.
Ein Roman über Verrat und Obsession und den Mut, einem Menschen bedingungslos zu vertrauen. Der außergewöhnliche Romantikthriller DIE FARBE DEINER LÜGEN der Bestsellerautorin Catalina Cudd ist als E-Book und Print erhältlich.

Kapitel 1 – Penelope
Ihr grauste davor, auszusteigen und diesem Mann gegenüberzutreten, von dem sie bisher nur wusste, dass er ein verurteilter Mörder war. Aber sie hatte keine Wahl.
Pepe legte die Finger um den Griff der Fahrertür, zögerte und zog die Hand wieder zurück.
Ihre Glieder waren gefühllos vor Kälte. Auf der vierstündigen Fahrt hierher war die Heizung ihres kleinen Toyotas ausgefallen. Die Scheibenwischer quietschten hin und her, der Motor ruckelte ungleichmäßig im Leerlauf. Der Regen prasselte so laut auf das Autodach, dass er die Musik übertönte, die aus den Lautsprecherboxen klimperte. Don’t you (forget about me) von den Simple Minds hatte ihr schon oft geholfen, doch ausgerechnet jetzt wollte der treibende Song seinen Zauber nicht entfalten.
ERZHÖFE – Fabrik der Renegaten stand auf einem kunstvoll gemalten Schild am linken Torpfeiler. Die Tafel auf der rechten Seite besagte: Liebe Freunde, konsumiert eure Drogen anderswo und nehmt gefälligst euren Müll mit nach Hause!
Sie entdeckte weder einen Klingelknopf noch eine Sprechanlage. Die schweren, rostigen Torflügel waren mit einer dicken Kette verschlossen. Darunter hing ein weiteres Schild mit dem hastig gepinselten, regelrecht zornigen Hinweis: Bis auf Weiteres GESCHLOSSEN!
Das Gebäude hinter dem Eisentor wirkte auf den ersten Blick verlassen und düster. Gestrüpp wucherte ungehemmt entlang der Ziegelmauer, die mit Graffiti und zerfetzten Plakaten geschmückt war. In den Schlaglöchern der maroden Auffahrt jenseits des Tores sammelte sich Regen. Ein paar Fahrzeuge standen auf dem Grundstück, flankiert von bunt bemalten Metalltonnen, aus denen Gestrüpp wucherte. Hinter einem alten Jeep und einem Bulli mit übergroßen Superhelden-Cartoons an den Seiten lugte das Heck einer glänzenden Oberklasse-Limousine hervor.
Er ist hier! Sie verspürte einen Anflug von Triumph, der jedoch sofort von kalter Beklemmung abgelöst wurde. Weiter als bis zu diesem Punkt hatte sie nicht geplant. Ihre Gedanken waren in den letzten Tagen und Nächten ununterbrochen um Franco gekreist, bis sie fürchtete, verrückt zu werden. Sie wollte so gern glauben, dass er sie vergessen würde, aber sie kannte ihn zu gut. Franco würde niemals akzeptieren, dass er die Kontrolle über sie verloren hatte. Und seine Fingerkuppe. Es wäre zum Lachen, aber Pepe hatte seit über einem Jahr nicht mehr laut zu lachen gewagt.
Stöhnend rieb sie sich über das vor Müdigkeit verquollene Gesicht. Seit ihrer Flucht hatte sie kaum Schlaf gefunden. Nicht einmal in der Wohnung ihrer Freundin hatte sie sich sicher gefühlt. Ihr Haar war eine Katastrophe, ihre Haut blass und ihre scharfen Wangenknochen sahen alles andere als sexy aus. Immerhin war die Prellung am Kinn dank des Make-up kaum noch zu erkennen und die verräterischen Male am Hals wurde von einem Schal verdeckt.
Angestrengt blinzelte sie durch die Windschutzscheibe. Der Regen erschwerte ihr die Sicht, doch sie glaubte, Bewegungen hinter den hohen Fenstern auszumachen. Man hatte ihre Ankunft also bemerkt.
Ihr Überlebensinstinkt riet ihr, den Rückwärtsgang einzulegen und schleunigst von hier zu verschwinden.
Aber was dann? Sie hatte keinen Plan B. Sie hatte nicht einmal einen vernünftigen Plan A, nur einen Strohhalm, an den sie sich klammerte. Eine lächerliche Schnapsidee. Zum Scheitern verurteilt. Wahnsinn.
Es musste einen anderen Weg geben, Franco zu entkommen und sich eine Zukunft aufzubauen.
Ihr war nur keiner eingefallen. Sie brauchte Geld. Sie brauchte eine Unterkunft. Ein neues Leben. Ein Auto mit funktionierender Heizung wäre auch nicht schlecht.
Vor drei Monaten war der Mann, der sich ihrer Meinung nach hier versteckt hielt, aus dem Gefängnis entlassen worden, leise und ohne Aufsehen. Erst ein paar Tage später hatte man eine Pressemitteilung herausgegeben. Seitdem suchten Journalisten, Bewunderer und zornige Aktivistinnen nach Drace, dem attraktiven Frauenmörder. Er war einfach verschwunden. Weder in seiner mondänen Bauhausvilla noch in dem Atelierloft in Amsterdam, die beide von Reportern belagert wurden, war er aufgetaucht. Seit vor fast sechs Jahren das Urteil gegen Drace, den Killer-Künstler, gesprochen worden war, standen seine Wohnungen leer.
Sein Galerist Max Ullmann hatte in einem Interview die Überzeugung geäußert, dass der Maler sich nach Tibet oder Patagonien geflüchtet hatte, um dem Rummel um seine Person zu entgehen. »Drace liebt das Extreme«, hatte der Mann in einem Interview gesagt. »Er ist Künstler durch und durch.«
Er liebt das Extreme, dachte sie mit einem Schaudern. Oh ja, allerdings. Etwas Extremeres als den brutalen Mord an einer unschuldigen Frau konnte Pepe sich nicht vorstellen.
»Tue täglich eine Sache, die dich ängstigt«, murmelte sie. Das Zitat von Eleanor Roosevelt stand auf der ersten Seite ihres Merkbuchs, das neben ihr auf dem Beifahrersitz lag. Mit den Fingerspitzen berührte sie den ledernen Einband, als könne er ihr Mut einflößen, dann drückte sie entschlossen auf die Hupe. Der ohrenbetäubende Krach ließ sie zusammenzucken. Pepe hatte auf die harte Tour gelernt, möglichst unsichtbar zu sein. Nicht, dass es ihr etwas genützt hätte.
Ein zweites Mal betätigte sie die Hupe. Nichts geschah. Sie wollte enttäuscht sein, doch die Erleichterung war stärker.
Ja, ich bin ein Feigling. Und?
Das Beste wäre, den Rückwärtsgang einzulegen, sich ein billiges Hotel und einen Aushilfsjob zu suchen, der sie eine Weile über Wasser hielt. Vielleicht gelang es ihr, die Bank doch noch zu überzeugen, dass Franco das gemeinsame Konto eigenmächtig gesperrt hatte. Wenn sie wieder über Geld verfügte, könnte sie …
Der Motor des Wagens erstarb. Einfach so.
Sämtliche Anzeigen am Armaturenbrett erloschen, die Scheibenwischer blieben mitten auf der Windschutzscheibe stehen und die melodische Stimme von Jim Kerr verstummte.

»Jetzt fall du mir nicht auch noch in den Rücken«, jammerte sie und drehte den Zündschlüssel. Ein mechanisches Klicken war zu hören. Noch einmal. Diesmal gab das Auto gar keinen Mucks mehr von sich.
»Das ist nicht lustig!« Den Tränen nah schlug sie auf das Lenkrad ein. Natürlich funktionierte auch die Hupe nicht mehr.
Sie angelte das Handy aus der übergroßen Umhängetasche – um festzustellen, dass der Akku schon wieder leer war. Ihre Freundin Christine hatte ihr das Ding samt einer Prepaidkarte überlassen; es war ein altes Modell mit Tasten, aber es war ein Handy.
Sie hatte mal ein Smartphone mit einer hübschen Flamingo-Hülle besessen. Eines Tages war es verschwunden und Franco hatte sich darüber lustig gemacht, dass sie nicht auf ihre Sachen aufpassen konnte.
Sie erinnerte sich an seinen letzten Geburtstag, zu dem sie ihm eine elegante Armbanduhr gekauft hatte, die er mal im Schaufenster des Juweliers bewundert hatte. Auf der Party hatte er ihr vor allen Leuten eine Szene gemacht wegen des Kaufpreises und sie aufgefordert, das Ding gleich am nächsten Tag zurückzubringen.
Später, als sie allein waren, versuchte er zu beschwichtigen. Er habe doch Pepe, was brauche er da noch ein kostspieliges Geschenk, das sie auch noch vom gemeinsamen Konto bezahlt habe. Sollten die Leute etwa denken, dass seine Freundin das Geld zum Fenster rauswarf?
Ein paar Tage später kaufte er sich ein nagelneues iPhone-Modell. Viermal so teuer wie die Uhr. Das alte, das er erst vor einem halben Jahr gekauft hatte, schenkte er einem Fussballkumpel. Da war Pepes eigenes Handy schon seit einem Monat auf mysteriöse Weise verschwunden gewesen.
Wozu brauchst du ein Handy?, hatte er misstrauisch gefragt. Du sitzt doch den ganzen Tag im Büro neben dem Festnetzapparat. Hast du Geheimnisse vor mir? Machst du mit einem anderen herum?
Zu dem Zeitpunkt hatte sie schon gewusst, dass er ihre Mails las und sie manchmal sogar löschte, bevor sie sie zu sehen bekam. Fast jeden Tag hatte er sie zur Rede gestellt, weil sie auf Twitter den witzigen Post eines Bekannten retweetet oder auf Facebook ein Gefällt mir bei einer Freundin hinterlassen hatte, die ihr neues Single-Dasein feierte. Belanglosigkeiten. Aber nicht für Franco. Um ihn zu beruhigen, hatte sie schließlich ihre Accounts gelöscht.
Die Kälte kroch in den Wagen. Abgesehen von dem Regen, der unverdrossen auf das Blechdach prasselte, war es still. Stille war nie ein gutes Zeichen. Die Ruhe vor dem Sturm.
Sie stopfte ihr Merkbuch zu der braunen Mappe in die Umhängetasche, wickelte den karierten Schal fester um den Hals, klappte den Kragen ihres apricotfarbenen Kurzmantels hoch und stieg aus. Sofort schlug ihr nasskalter Wind ins Gesicht.
Die Tasche gegen die Brust gedrückt, blickte sie sich um. Die Erzhöfe lagen in einem menschenleeren Industriegebiet abseits der City. Zwischen schäbigen Im- und Exportfirmen und Schrottplätzen standen staubgraue Wohnhäuser ohne Gardinen vor den Fenstern. Die Abenddämmerung stieg auf. Es gab keine Straßenlaternen in diesem Viertel. Bald würde es dunkel sein. Sie brauchte Hilfe, um von hier fortzukommen.
Pepe machte einen Schritt auf das Eisentor zu und versank prompt bis zu den Knöcheln in einer schlammigen Pfütze. Eisiges Wasser sickerte in ihre Stiefeletten und durchtränkte die dünnen Ringelstrümpfe. Einen Fluch murmelnd, rüttelte sie an den Gitterstäben. Die Kette klirrte.
»Hallo?«, rief sie piepsig, räusperte sich und nahm alle Lungenkraft zusammen. »HALLO! Ich habe eine Autopanne.«
Wieder nahm sie eine Bewegung hinter den Fenstern des alten Fabrikgebäudes wahr.
Pepe wartete. Sie wartete sehr lange.
Als ein Außenlicht über dem Gebäudeeingang ansprang, zuckte sie zusammen. Ein Mann trat heraus und blieb unter dem schützenden Vordach stehen. Er machte keine Anstalten, zum Tor zu kommen. »Verpiss dich!«
»Mein Wagen hat eine Panne!«, brüllte sie gegen Regen und Wind an. »Das hier sind doch die Erzhöfe?«
»Lies das verdammte Schild! Derzeit finden keine Ausstellungen oder Workshops statt.« Der Mann hatte kurzes helles Haar, also konnte es sich nicht um Drace handeln.

Sie hätte sich gern ein Aufatmen erlaubt. »Ich kann aber nicht weg. Außerdem …«, fügte sie einer Eingebung folgend hinzu: »Außerdem habe ich gehört, dass es hier Unterkünfte und Ateliers für Künstler gibt. Ich suche nämlich so etwas.«
Früher wäre sie nie auf die Idee gekommen, sich mit einer Lüge Zutritt zu einem fremden Haus zu verschaffen. Aber früher hatte sie auch nicht ahnen können, dass die Wahrheit schmerzhafte Konsequenzen haben konnte.
»Wir nehmen keine neuen Mitbewohner auf.« Der Mann wandte sich ab.
»Es ist aber echt dringend!«, schrie sie. »Es geht sozusagen um Leben und Tod.« Sie rüttelte an den Eisenstäben. »Bitte! Ich bin wirklich verzweifelt. Ich kann nirgendwo hin.« Immerhin das war die Wahrheit.
Mitten in der Bewegung verharrte der Mann. Langsam drehte er sich um. »Ich kann dir nicht helfen.« Sie musste sich anstrengen, ihn zu verstehen, weil er nun leiser sprach. »Ist ein ungünstiger Zeitpunkt. Tut mir leid.« Er sah resigniert aus.
Pepe wischte sich eine nasse Strähne aus der Stirn, ihre Zuversicht sank. Ihre Augen suchten die Gebäudefront ab.
Hinter dem Fenster im ersten Stock war eine Gestalt zu sehen. Könnte das möglicherweise …?
»Kann ich wenigstens einen Abschleppdienst anrufen? Der Akku meines Handys ist leer.«
Der Mann rieb sich über die Stirn, warf einen Blick zurück ins Innere, dann zog er die Kapuze seines Sweaters über den Kopf und eilte die drei Stufen hinab und zum Tor. Dort blieb er stehen. Das Gesicht unter der Kapuze gehörte einem jungen Mann mit freundlichen, aber müden Augen. »Die Erzhöfe sind geschlossen. In letzter Zeit haben zu viele Reporter versucht, hier reinzukommen.«
»Was für ein glücklicher Zufall, dass ich kein Reporter bin.« Sie schlang die Arme um den Oberkörper. »Ich bin nur so gut wie pleite und ich weiß nicht, wo ich die nächste Nacht verbringen soll.« Der Regen rann in ihren Kragen, sie erschauerte. »Es war eine blöde Idee, hierher zu kommen.«
Er trat näher, musterte sie von der hellgrünen Jeans über den apricotfarbenen Mantel bis hin zu dem Schal, den Christine ihr gegeben hatte. Der Schal stammte von Christines Vater und das sah man ihm auch an. Die musternden Augen machten sie nervös. Sie stand nicht gern im Fokus von Männern.
»Du siehst nicht aus wie eine Künstlerin«, sagte er.
Natürlich nicht. Von Kunst verstand sie nicht die Bohne. »Es regnet in Strömen und mir ist kalt. Bei diesem Wetter sieht niemand künstlerisch wertvoll aus.«
»Auch wieder wahr.« Sein Blick ging an ihr vorbei, er sah in alle Richtungen. »Bist du allein gekommen?«
»Nein, in meinem Kofferraum habe ich einen bewaffneten Guerilla-Trupp versteckt.« Sofort verfluchte sie sich für ihr Mundwerk, das sie schon so oft in Schwierigkeiten gebracht hatte.
Der fremde Mann grinste bloß. »In deinen Elefantenrollschuh passt doch gerade mal ein Kulturbeutel.«
»Das ist ein gutes Auto«, erwiderte sie gekränkt.
»Offenbar nicht, sonst würde es jetzt nicht unser Tor blockieren.«
»Hören Sie, ich bin wirklich harmlos. Und ziemlich verzweifelt.« Und eigentlich will ich gar nicht hier sein.
»Ich hab’s schon beim ersten Mal verstanden.« Unschlüssig rieb er sich die Nasenwurzel. »Ich weiß ja nicht, wo du herkommst, aber hier bei uns duzt man sich.« Regen tropfte vom Rand seiner Kapuze. Er sah aus, als ringe er mit sich selbst. »Du bist nicht wegen Drace hier?«, fragte er endlich.
Sie riss die Augen auf. »Was? Wen?«, fragte sie etwas zu schrill. »Nein, natürlich nicht! Ich suche bloß Wohnraum und … und ein Atelier. Ich dachte … ich dachte …« Sei jetzt still, bevor du es total verpatzt!, mahnte sie sich lautlos. »Na ja, ich dachte halt.«
Der Mann hinter dem eisernen Tor wippte unschlüssig auf den Fußballen, während er erst sie musterte und dann einen Blick zurück zum Haus warf. Dann schien er einen Entschluss gefasst zu haben.
»Ach, egal. Komm erst mal rein.« Er zog einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete das Vorhängeschloss der Kette. Prüfend schaute er sich auf der leeren Straße um. »In den letzten Monaten haben zu viele Neugierige versucht, aufs Grundstück zu kommen. Es gab Tage, da haben wir uns wie Tiere im Zoo gefühlt. Mittlerweile sind sie weitergezogen, aber man weiß nie.« Quietschend schwangen die Flügel auf. »Wir müssen deine Schrottkarre aus dem Weg bekommen.«
Und schon öffnete er die Fahrertür ihres Wagens, löste die Handbremse und stemmte sich gegen den Türholm. Ächzend setzte sich ihr Vehikel in Bewegung. »Wie wär’s, wenn du mal mithilfst? Schieb an!«, rief er über die Schulter.
Mit ihrem ganzen Gewicht drückte sich Pepe gegen das Wagenheck. Die glatten Sohlen ihrer Stiefeletten rutschten aus und sie landete bäuchlings im Schlamm. Ihre Umhängetasche klatschte in eine Pfütze.
»Scheiße!« Sie schlug mit der Faust auf den Boden. Tränen quollen aus ihren Augen.
Langsam rollte ihr Wagen fort und wurde unter einem Baum abgestellt. Der Mann kehrte zu ihr zurück. »Heute ist nicht dein bester Tag, was?« Sie sah, dass er sich beherrschen musste, um nicht in lautes Lachen auszubrechen.
Er streckte ihr die Hand entgegen, doch Pepe ignorierte sie und kämpfte sich aus eigener Kraft hoch. So schnell würde sie sich von keinem Mann anfassen lassen. Sie fischte die Tasche aus dem Wasser und stellte erleichtert fest, dass der Inhalt trocken geblieben war.
»Mach schon, lach mich aus, dann haben wir die Peinlichkeiten hinter uns.« Zornig wischte sie sich den Dreck aus dem Gesicht. Die Vorderseite ihres schönen Mantels war durchtränkt von Schlamm, ihre Jeans nass und ihre Würde vom Regen fortgespült.
»Ich lache nicht, ehrlich.« Er lief zurück zum Tor.
Pepe nutzte die Gelegenheit, sich umzusehen – und fuhr zusammen, als sie eine übermannsgroße schwarze Gestalt mit langen Gliedmaßen unter den Bäumen erblickte. Nach zwei Schrecksekunden erkannte sie, dass es sich um eine riesige Skulptur aus Eisen handelte.
Hinter ihr schepperten die Torflügel ins Schloss und die Kette rasselte. Nun saß sie hier fest. Das war nicht Teil ihres undurchdachten Plans gewesen.
»Lass uns erst mal reingehen«, sagte der Fremde. »Das letzte, was wir hier gebrauchen können, ist eine erfrorene Leiche.« Er ging voran.
Nach einigem Zögern folgte sie. Bedrohlich ragte das alte Ziegelgebäude vor ihr auf. Hinter den hohen Fenster lauerte Dunkelheit. Oder Schlimmeres.
Ein zartes Klingeln erweckte ihre Aufmerksamkeit. In der Krone einer Eiche bimmelten unzählige gläserne Blätter im kalten Wind.
»Hübsch«, sagte sie.
»Kitschig«, bemerkte er abschätzig. »Das ist Hannahs Werk. Sie hat uns bei Todesstrafe verboten, den Klingelkrempel aus den Bäumen zu nehmen.« Er deutete in die andere Richtung, wo sich drei Stahlgebilde spiralförmig in den regendunklen Himmel reckten. »Totenwache von Benni Forster. Ich prophezeie dir, dass seine Skulpturen in ein paar Jahren locker eine halbe Million wert sind. Der Kerl ist richtig gut. Seine wichtigsten Werke hat er in den Erzhöfen geschaffen.« In der Stimme schwangen Stolz und auch Neid mit.
»Aha«, sagte sie höflich. »Wundervoll.«
»Er ist Hals über Kopf abgehauen, als Drace hierher …« Der Mann unterbrach sich. »Hoffentlich steckt der Feigling jetzt in einer massiven Schaffenskrise.«
Rund um die Eingangstür des Gebäudes wanden sich gemalte Schlangen mit komplizierten Mustern. Aus geschlitzten gelben Augen starrten sie Pepe entgegen. Wir durchschauen dich, Lügnerin, wisperten sie.
»Die Wandmalerei hat Ajax verbrochen.« Der Mann lief die Stufen hinauf und streifte seine Kapuze ab. Das steinerne Vordach schützte sie vor dem Regen. »Der Junge bezeichnet sich als Street Artist. Ich weiß nur, dass er nicht mal seine Tasse in die Spülmaschine räumen kann.« Er schob die gläserne Tür auf und machte eine einladende Geste. »Willkommen in den Erzhöfen. Der Ort, an dem alles möglich ist – im Guten wie im Schlechten.«
Pepe blieb auf der obersten Stufe stehen. Ihre Beklommenheit verwandelte sich in blanke Panik. Sie konnte sich nicht überwinden, über die Schwelle zu treten. In diesem Haus hielt sich ein Mörder auf. Sie sollte nicht hier sein.
»Willst du nun reinkommen oder nicht? Es zieht wie Hechtsuppe und es ist arschkalt«, sagte der Mann ungeduldig. »Oder gehörst du zu diesen durchgeknallten Elementaristen, die unbedingt eins mit der Natur werden wollen?«
»Was? Nein!« Mit Mühe überwand sie ihre Starre. »Der Natur bin ich heute schon näher gekommen, als mir lieb ist.« Bedrückt sah sie auf ihre schlammige Kleidung hinab.
Nun war sein Grinsen schon viel freundlicher. »Dann mal rein in die gute Stube.«
Die Eingangshalle nahm beide Stockwerke des Gebäudes ein und wurde von einem gewölbten Glasdach gekrönt. Das Trommeln des Regens klang hier drin überlaut, außerdem war es mindestens so kalt wie draußen. Die Steinplatten waren stellenweise entweder gebrochen oder durch farbenfrohe Mosaike ersetzt worden. Da nirgendwo Licht brannte, wirkte die Halle trotz der Glaskuppel düster. Ein durchdringender Geruch von Farben, Lacken und Lösungsmitteln schwängerte die Luft. Pepe nieste.
»Ich bin übrigens Cris.« Der Mann streckte ihr die Hand entgegen.
Pepe trat schnell einen Schritt zurück. »Meine Hände sind schmutzig.« Zum Beweis hob sie ihre schlammigen Finger.
»Na und? Ein bisschen Dreck bringt mich schon nicht um.« Er packte ihre Hand und schüttelte sie, ohne zu bemerken, wie sie sich versteifte. »Ich male in Öl. Abstrakt mit kontroversen Details, die sich nicht sofort erschließen. Ich will provozieren, weißt du? Vielleicht hast du schon von mir gehört?« Hoffnungsvoll hob er die Brauen.
Sie schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich bin nicht aus der Gegend.«
»Hat man dir da, wo du herkommst, auch einen Namen mitgegeben?«
»Oh, Entschuldigung. Ich heiße Pepe … Also, eigentlich Penelope, aber … na ja …« Sie verstummte. »Kann ich mir irgendwo die Hände waschen?« Ihre Stimme war immer dünner geworden, ihre Zähne hatten angefangen zu klappern.
»Du brauchst was Warmes zu trinken, eine heiße Dusche und trockene Klamotten«, erwiderte er fachmännisch. »Ich schau mal, was ich organisieren kann.«
»In meinem Auto liegt eine Reisetasche mit Sachen.«
Seine Brauen bildeten ein V. »Du hast also echt keine Unterkunft?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, deutete er einen Gang entlang. »Hinter der dritten Tür links ist eine Dusche. Das Wasser braucht eine Weile, bis es heiß wird. Ich hole deine Tasche.« Und schon hatte er wieder das Gebäude verlassen.
Pepe rührte sich nicht vom Fleck.
Rechts und links führten Gänge mit farbenfroh bemalten Wänden in die Tiefen des Gebäudes. Leise Musikfetzen waren zu hören, noch leisere Stimmen, das Klappern einer Tür. Überall hingen Poster, die für Ausstellungen, Konzerte, Theaterstücke warben. Bunt zusammengewürfelte Sofas mit durchgesessenen Polstern säumten die Wände der Halle. Ein altes Ölfass diente als Müllbehälter und auf Metallkisten lagen Flyer verteilt. Hier und da prangten Kritzeleien auf dem Putz. An einem schwarzen Brett hingen Zettel:
Künstler gegen Rechts treffen sich hier jeden Donnerstag um 18:00 Uhr!
Staffelei für große Formate abzugeben. Bin auf digitale Malerei umgestiegen.
Suche Modelle für Bodypainting!
Und ein handgemaltes Plakat verkündete: Feministische Aktionskunst mit Neoma! Männer müssen draußen bleiben.
Alles wirkte chaotisch, zusammengewürfelt und dennoch überraschend sauber.
»Schau nicht so entsetzt. Wir wissen selbst, dass die Erzhöfe nicht die Accademia dell’Arte sind.« Cris ließ ihre Reisetasche auf den Steinboden fallen und schüttelte sich wie ein Hund. Regentropfen flogen umher. »Dreckswetter.«
Er war nett und wirkte aufrichtig, aber Pepe hatte gelernt, Männern zu misstrauen, vor allem, wenn sie sich Mühe gaben, nett zu sein. Franco galt als charmant und aufmerksam und ungeheuer selbstbewusst. Ein Mann, der sich kümmerte.
Anfangs war es unglaublich schön gewesen.
Bis es anfing, unglaublich schlimm zu werden.
Mit einem entschuldigenden Lächeln nahm sie ihre Tasche und eilte auf die Tür zu, auf die ein Bär unter einem Wasserstrahl gemalt worden war. Werkstattdusche stand darunter. Die Tür ließ sich von innen abschließen. Pepe überprüfte dreimal, ob auch wirklich niemand hineinkommen konnte, erst dann wagte sie, ihren patschnassen Mantel auszuziehen und den Schal abzuwickeln. Die Male am Hals waren auch jetzt noch erkennbar. Das Schlucken tat immer noch weh. Aus Erfahrung wusste sie, dass es lange dauern würde, bis sich ihre Kehle nicht mehr gequetscht anfühlen würde.
Die Gemeinschaftsduschen waren uralt, die Fliesen vergilbt, aber die Seifenstücke, die an Kordeln hingen, rochen himmlisch nach Limette. Pepe hatte bei ihrer Flucht aus der gemeinsamen Wohnung weder an Handtücher noch an ihre Zahnbürste gedacht. Daher war sie heilfroh über den Stapel Duschtücher in dem Holzkistenregal. Sie waren alt und von unterschiedlicher Qualität, aber sie rochen sauber nach Waschmittel. An der Wand lehnte ein zwei Meter hoher Spiegel in einem abgestoßenen Barockrahmen.
Die Wasserleitungen ächzten und stöhnten und es dauerte Ewigkeiten, bis der eisig kalte Strahl allmählich warm wurde.
Obwohl Pepe dringend ihre nassen Klamotten loswerden wollte, fiel es ihr schwer, sich auszuziehen. Ständig schaute sie zur Tür. Die fette Prellung über den Rippen leuchtete nun in einem dunklen Gelb, aber wenigstens hatte Franco ihr diesmal nichts gebrochen.
Nur, weil du ihm die Fingerkuppe abgebissen hast. Sonst wärst du vielleicht nicht mehr am Leben. Er war so unglaublich wütend auf dich!
Und er hatte nicht damit gerechnet, dass sie sich zur Wehr setzen würde. Weil sie es nie getan hatte. Sie hatte immer nur geweint und ihn angefleht, aufzuhören.
Eine Welle heißer Scham flutete über sie hinweg, hastig wandte sie den Blick von ihrem Spiegelbild ab.
Es ist nicht meine Schuld, dass er mich so behandelt hat, redete sie sich zu.
Vielleicht konnte sie es eines Tages glauben.